gefühle in schriftgröße 12

nostalgie und verkehrsdelikte

 

 

paris, woche 2

ein brief an meine großmutter

 

meine liebste elke,

wie viele tage müssen wohl vergehen, dass du mir nicht mehr so schrecklich fehlst?

wie viele deiner fotos muss ich noch an meine wand kleben, bevor es sich so anfühlt, als würdest du mir wirklich gegenüber sitzen - in deinem roten wollpullover. mit deinen braunen locken.

wie oft werde ich menschen noch von dir erzählen, so als hätten sie dich gekannt?

für immer, denke ich. das wort lebt schon auf meiner zungenspitze.

dieses ewige kreisen um die idee von dir ist wie ein nebeneffekt davon, jemanden so sehr zu lieben, dass er irgendwann in den zwischenräumen des alltags weiterlebt.

die sehnsucht ist immer dann am lautesten, wenn alles leise wird.

 

aber zwischen sehnsucht und trauer habe ich heute auch etwas schönes für dich

lass mich dir von gestern abend erzählen.

meine zweite woche in paris. du mochtest diese stadt immer - das weiß ich noch. und jetzt anscheinend ich auch.

ich bin ohne plan aus dem haus gegangen. ohne erwartungen, ohne absichten. nur die unbequemen schuhe, die ich für den style geopfert hab, und ein hauch parfum (manches muss immer)

einer dieser abende, an denen die wände zu eng und die beine zu unruhig werden.

 

ich hab einen jungen mann getroffen.

café, 17. arrondissement.

wir tranken kräutertee um 21 uhr, aus weißen tassen mit goldrand.

du weißt, ich mach mir bei männern nie viele gedanken. ich komme nicht leicht ins fühlen, ich hab einen talentierten fluchtinstinkt. meine versuche enden meist, bevor sie anfangen.

aber er war ruhig, und ich war neugierig (man könnte meinen, eine gefährliche kombi)

 

sein gesicht war unaufgeregt. als hätte er nichts zu beweisen.

und das hat mich beunruhigt, aber das hier ist ja ein blog über neue anfänge, oder?

seine wimpern waren lang, seine finger unnatürlich gerade.

er hielt die tasse wie ein musiker, oder ein künstler. zart. fast wie aus versehen.

(er war natürlich weder noch)

ein grübchen auf der rechten wange. keine ahnung, ob es auch eins links gab. hab ich nicht geschaut. aber seine hände. an denen blieb ich hängen.

wie viele geschichten sie wohl getragen haben?

 

wir redeten über unsere familien, städte, marseille und versailles. über kunst. und videografie.

nach zwei stunden fragte er, ob ich die stadt sehen will. ich habe ja gesagt.

mein rationales ich war da schon längst offline. keine risikoanalyse, kein emotionales sicherheitsnetz. ich war weich, wie ein stück knete, gestern und morgen waren bloß richtlinien, die im lichte meiner fehlenden sehkraft verschwammen.

 

aber da war sie wieder. die stimme meiner mitbewohnerin. sie ist portugiesin. weise, skeptisch bei französischen männern, die gut zuhören. sie sagt, tiefe geht oft verloren in der übersetzung. irgendwo zwischen je t’aime und willst du zahlen?

 

aber du warst bei mir, elke. das weiß ich. ich hab es gefühlt.

als wir vor dem moped standen, warst du da.

türkisblau, mit zwei helmen.

21 jahre (und elf zwölftel) auf dieser erde, und noch nie hab ich mich dir so nah gefühlt.

er wusste das natürlich nicht. aber vielleicht hat mein gesicht irgendwas verraten.

etwas stilles, rohes. ein bisschen zeitsprung.

 

du musst verstehen, liebe*r leser*in -

meine großmutter hat mir mein leben lang dieselbe geschichte erzählt. als ich zehn war. zwölf. fünfzehn. zwanzig. immer dieselbe.

sie fuhr mit siebzehn durch london, hinten auf einem moped, bei einem jungen mann, dessen namen sie nie erwähnte. aupair bei einer jüdischen familie, strenge regeln, gebügelte kleider, abendessen allein.

aber diese eine nacht gehörte sie der stadt. sich selbst.

und ich habe es nie verstanden.

bis gestern abend.

 

es war kalt für einen sommerabend, elke.

aber in meinem herzen war es warm wie schon lang nicht mehr.

wir fuhren los. ein fußballspiel war zu ende, menschenmassen auf den straßen. überall stimmen, bars überfüllt, die musik wechselte an jeder ecke, als hätte jemand den playlist-shuffle zu ernst genommen.

 

place de clichy, jungs in fußballtrikots überqueren die straßen in bunten schals und lautem gelächter. ich zählte die balkone, die art-déco-verzierungen.

moulin rouge, frauen mit glitzer auf den wangen, kurzen kleidern, zigaretten wie accessoires, haarspangen mit lilafarbenen federn.

wir biegen erneut ab, montmartre. lichterketten, reihenhäuser wie aus theaterkulissen, clubs mit glasfronten, sich unter blitzenden lichtern küssende menschen, und immerzu das leichte surren des motors, der uns durch die straßen trug.

 

um mitternacht erreichten wir sacré-cœur

paris hatte gewonnen. feuerwerk. kleine explosionen über den dächern.

ich dachte an deine augen. wie sie das alles gesehen hätten.

 

und nein - er hat mich nicht gefragt, ob ich mit zu ihm komme.

ich hab in meinem eigenen bett geschlafen. mit eiskalten händen. und warmen, warmen erinnerungen.

 

es war schön, elke.

aber mehr noch,

jetzt versteh ich es. ich hab paris, wie du london hattest.

und ich trag dich in den details, auf die ich achte.

ich trag dich an den nächten, in denen ich laut lache.

und an denen, wo ich still daliege und versuch, mit der zukunft klarzukommen.

wenn ich das bild von dir auf meinem nachttisch anschaue.

 

ich trage uns.

zum weiterleben. zum weiterlieben.

 

bis bald, meine liebste elke.

ich denke an dich,

jeden tag, an dem ich atme.