gefühle in schriftgröße 12

 

eine kerze brennt, zwei ziffern auch

 

 

meine mama kam in paris an und stand, bevor wir haussmann überhaupt verlassen hatten, bereits im streit mit dem ticketsystem. genauer gesagt mit apple wallet. gewisse dinge sind ihr einfach zu digital. (die pariser métro ist definitiv eines davon) ich stand auf der anderen seite der schranke und sah ihr zehn minuten dabei zu, wie sie tippte, seufzte, die augen zusammenkniff, wieder tippte, und dann irgendwann doch noch den eintritt ins neue jahrtausend fand. das tor öffnete sich, sie ging durch, als wäre nichts gewesen. es war acht monate her, seit wir uns zuletzt gesehen hatten. sie sagte, sie möge meine ponyfransen. ich sagte, ich möge ihre locken.

 

wir gingen einkaufen. eigentlich wollten wir gar nichts kaufen. oder vielleicht doch, aber sicher nicht so viel. aber wenn es vier obstläden in derselben straße gibt, und mai ist, dann braucht man vitamin c, ohne dass es 14 stunden im flieger saß (#buylocal #buyorganic). später am tag öffnete mein mitbewohner den kühlschrank, warf einen blick auf mein fach, und meinte, es sähe aus, als würde ich einen obstbazar eröffnen. er hatte nicht unrecht.

 

die boulangerie am nächsten morgen war dieselbe, in der ich seit wochen mein brot kaufe. wir bestellten une baguette, s’il vous plaît, in einem französisch, das meiner meinung nach durchging. die verkäuferin antwortete auf englisch und fragte, ob wir es geschnitten haben wollen. bis heute weiß ich nicht, was uns verraten hat. vielleicht alles. das problem mit den menschen hier ist nämlich, dass sie widersprüchlich mit nicht-franzosen umgehen: sprichst du englisch, sind sie genervt - verständlich. versuchst du es auf französisch, aber mit akzent, reagieren sie erst recht auf englisch. ein dilemma, das jede integration erschwert.

 

wir liefen den rest des tages durch mein viertel. jedes mal, wenn ein rosenstrauch über ein tor hing, hielten wir an und rochen daran. manche rochen nach nichts. aber wir lehnten uns trotzdem vor. irgendwas tröstliches liegt in der geste allein. eigentlich war das ganze ein verdauungsspaziergang. das hatte zumindest meine mama vorgeschlagen. ich bin eher team: auf dem bett liegen und mich fragen, warum ich so viel gegessen habe. aber es war warm, und sie war da. ich nenne es assimilationsmaßnahme der woche. für die gesundheit! für das laufen nach dem essen! (ich liege gerade im bett, während ich das schreibe.)

 

an meinem geburtstag haben meine mitbewohner:innen einen kuchen gebracht, laktosefrei, zu meinem glück. wir zündeten 22 kerzen an, und beide handgemachten zweien gingen in flammen auf. es war kein zeichen, ich hatte sie einfach aus papier gebastelt. (hochgradig entflammbar.) einen moment lang fragte ich mich, ob das als wunsch zählt. dann sangen sie happy birthday, mit akzenten aus allen ecken, niemand versuchte zu harmonisieren, und ich glaube, das war der moment, in dem ich mich am allerglücklichsten fühlte, seit ich in dieser großen, lauten stadt angekommen war.

 

am nächsten morgen frühstückten wir auf dem boden meines zimmers. orangenmarmelade, brot, und der rest vom kuchen, direkt aus der form. meine mama schenkte mir getrocknete holunderblüten in einem ausgespülten gurkenglas, um tee daraus zu machen, und eine kleine blaue kartenschachtel mit dem titel „mon ami l’univers“. darauf standen wörter wie clémence, remercie und la simplicité. sie ist eben eine spirituelle frau mit hang zum exzentrischen.

 

dann schnitt sie mir die haare, bürstete sie, und lockte sie mit dem glätteisen. ich erinnere mich, wie ich dasselbe vor zehn jahren bei ihr gemacht habe. damals hab ich mir beim lockendrehen den daumen so verbrannt, dass ich zwei tage mit einem beutel eiswürfel rumgelaufen bin. diesmal gab es keine verletzungen. vielleicht sind wir beide älter geworden. vielleicht haben wir unsere leichtsinnigkeit hinter uns gelassen.

 

nachmittags dann: galeries lafayette in der parfumabteilung. damen in hosenanzügen, die uns mit düften besprühen, die wir uns nicht leisten konnten. es war eine mischung aus reizüberflutung, amüsierten blicken die wir austauschten, und orientierungsverlust irgendwo zwichen guerlain und  maison margiela.

 

ich war wieder fünfzehn. fünfzehn mit einem geschenk von ihr, fünfzehn mit ihr auf einer parkbank, mittagessen von pret à manger. fünfzehn euro für drei snacks, fünfzehn minuten sonne, und ein diskurs darüber, wer das letzte stück mango nehmen muss. ich bin jetzt zweiundzwanzig, aber geburtstage fühlen sich immer ein bisschen nach zurückspulen an.

 

am abend brachte ich sie zum bahnhof. sie fuhr weg. ich sagte nicht, was ich sagen wollte. ich glaube, sie auch nicht.

 

ich denke, das faszinierende daran, wie sich beziehungen mit den jahren verändern, ist, dass manche dinge sich nie ändern - und andere nie wieder so sein werden wie früher. viele finden das melancholisch. loslassen, um platz zu machen für das, was jetzt ist. ich empfinde es als friedlich. ich sehne mich nicht nach einer art liebe, die ich nicht mehr bekommen kann. ich warte nicht darauf, dass jemand „irgendwann schon noch versteht“. ich bin ganz, nachdem ich ein viertel meines lebens damit verbracht habe zu lernen, wie es ist, nicht mehr auf mentor:innen oder autoritäten angewiesen zu sein, um klarzukommen. ich fühle mich merkwürdig erwachsen, an meinem geburtstag durch die straßen zu laufen, ohne dass mich das gefühl der einsamkeit überrollt.

 

und sowieso: immer öfter bin ich es gar nicht.

 

jetzt gerade, zwei tage später, liege ich im bett, vorhänge zu, 29 grad draußen, die sonne schreit nach picknick, und halb paris schaut fußball.

 

ich war eingeladen. ich hatte lust.

ich bin... nicht hingegangen.

 

die wahrheit ist: ich lebe, als müsste ich jeden tag vorsprechen für die rolle der hochfunktionalen erwachsenen. so als würde ich mir selbst beweisen wollen, dass ich die bin, die im chaos gedeiht, genug wasser trinkt, und nach der arbeit noch energie hat, um tanzen zu gehen. bin ich aber nicht. nicht mal die zweitbesetzung.

ich bin die, die drei werktage braucht, um sich von einem brunch zu erholen.

ich bin die, die gehirnforschung im park liest und hummus mit karotten isst, die mehr gekostet haben, als ich gedacht hatte.

 

ich habe „behave“ von robert sapolsky mitgenommen nach parc monceau. kein leichtes buch. es geht um verhalten. aber nicht nur das sichtbare, sondern um die biologischen, psychologischen und gesellschaftlichen ursachen dahinter. ein kapitel ging um „fear extinction“. es besagt, dass angst nicht verschwindet. sie wird nur leiser. das gehirn legt neue verknüpfungen an. die alte bleibt. aber die neue sagt: diesmal ist es anders. diesmal ist es okay.

 

bild dir einen steinzeitmenschen, der sich beim ersten feuer verbrennt. ab da ist feuer: feind. aber dann sieht er, wie jemand darin fisch brät. oder brot. (wahrscheinlich nicht brot.) plötzlich ist feuer nicht mehr nur gefahr. sondern auch nutzen. wärme. beide erinnerungen bleiben bestehen. aber eine wird lauter als die andere. genau so funktioniert angst. sie geht nicht weg. sie wird überstimmt.

 

ich denke in letzter zeit viel darüber nach. nicht in großen transformationen, sondern in kleinen. ich betrete orte, die mich früher nervös gemacht haben, ohne zu planen, wie ich am besten wieder rauskomme. ich sage nein, ohne essay.

 

cheers, meine kleinen fruchtzwerge

 

diese woche war kein durchbruch. neutral auch nicht, das ist sie nie. aber ich habe gejournaled. ich habe es verarbeitet. ich hab mein hirn ruhig umverdrahtet. und hey: ich hätte völlig durchdrehen können.

bin ich aber nicht.

 

und das, meine lieben, ist charakterentwicklung.